Ein Titel für das angekratzte Image

Als ein Reporter der „Zeit“ im Dezember 2003 Flensburg besuchte, um für eine Wirtschaftsreportage zu recherchieren, konnte niemand ahnen, daß seine Geschichte eine ganze Stadt lähmen würde. „Flensburg schrumpft“ stand ein paar Tage später in der Hamburger Wochenzeitung, und das war noch die vorsichtigste Aussage über die Stadt an der dänischen Grenze. Die gesamte Ausrichtung der Reportage hätte man aus einer Rangliste herauslesen können, die weiter hinten abgedruckt war: Da lag Flensburg auf Rang 465 einer Tabelle, die das Wirtschaftswachstum in Deutschland der vergangenen fünf Jahre abbildete. Schlechter waren nur noch Görlitz, die Oberlausitz und das Leipziger Land.

Flensburg Viertletzter, Flensburg als Beispiel für den wirtschaftlichen Niedergang einer ehemals prosperierenden Stadt, die lange von der Zonenrandförderung profitierte. Flensburg also ein großer Verlierer der deutschen Vereinigung? Es gab nur ein Gesprächsthema in der Stadt.

Thorsten Storm erinnert sich gut an diesen Artikel, überall ist er darauf angesprochen worden. Freunde fragten: „Wo lebst du denn?“ Er sagt: „Ich glaube nicht an solche Statistiken. Man kann Flensburg nicht in den Ruhrpott stecken. Wir sind, wie wir sind. Mit allen Chancen und Problemen.“ Ein halbes Jahr später spricht niemand mehr in der von Landflucht ausgezehrten, armen und in vielen Vierteln unansehnlich gewordenen Fördestadt vom schlechten Image.

Seit Wochen gibt es nur ein Thema: die SG Flensburg-Handewitt. Storm ist Manager des Handballvereins. An diesem Sonntag könnte das liebste Kind der Stadt im Spiel gegen die HSG Nordhorn Deutscher Meister werden; ein Punkt fehlt noch zum Titel.
Es wäre die erste Meisterschaft für die SG nach fünf zweiten Plätzen in den vergangenen acht Spielzeiten. Storm sagt: „Für Flensburg und die Region Südjütland wäre die Meisterschaft ein Jahrhundertereignis.“

Für die Menschen hier – immer etwas skeptisch, immer etwas nörgelig – wäre die Meisterschaft der Handballspieler, von denen nur noch Torwart Jan Holpert aus Flensburg kommt, eine Injektion Selbstvertrauen und Stolz. „Nicht jeder in so einer wirtschaftsschwachen Region kann segeln oder Golf spielen“, sagt Storm, „wir brauchen hier oben etwas für alle. Das ist die SG.“ Bisher endeten die Gedanken immer beim großen Konkurrenten in Kiel – und hatte man den THW einmal pro Saison geschlagen, wurde man gern am Ende nur Zweiter hinter Lemgo oder Magdeburg.

Seit einem Jahr, seit Kent-Harry Andersson Trainer und Storm Manager ist, heißt das neue Motto: „Think big!“ Sechsmal nacheinander hat die SG den THW jetzt besiegt, Pokalsieger ist man schon.

Storm vergleicht die SG gern mit Werder Bremen, den THW mit den Bayern. Das paßt natürlich wunderbar in diesem Jahr. „Unsere Möglichkeiten werden immer geringer sein als die von Kiel“, sagt er. Die Ostseehalle, stets mit 10500 Zuschauern gefüllt, gilt als Kieler Lebensversicherung.

In Flensburg ist alles ein paar Nummern kleiner. Und trotzdem hat sich die SG in der vergangenen Dekade zu einem europäischen Spitzenteam entwickelt. In diesem Jahr nun ist die Mannschaft gereift, der ruhige Trainer Andersson hat ihr ein System verpaßt, das Gelassenheit auch bei Rückständen und in engen Situationen vorschreibt. Die Spieler werden in kein Korsett geschnürt. Manchmal hat sich der 55 Jahre alte Schwede über den präsenten, vorpreschenden Storm gewundert. Doch der Erfolg spricht für beide; ihr Verhältnis ist freundschaftlich.

Storm mag in Flensburg keine Standortnachteile erkennen. Die Einnahmen aus Sponsoring und Werbung hat der Manager in Zeiten der gesamtwirtschaftlichen Flaute um etwa 20 Prozent oder eine halbe Million Euro im Vergleich zum Vorjahr gesteigert.

„In den Verhandlungen mit den Spielern muß ich meine Vorteile darstellen“, sagt er, „wir haben einen erstklassigen Trainer, wir zahlen pünktlich, wir haben die Natur hier, Wasser und gute Luft, und die Spieler kriegen ihre Häuser relativ billig und können gerade mit Kindern sorgenfreier leben als in Großstädten.“ Aber Storm weiß, daß er nicht mitbieten kann, wenn sein Spitzenspieler Lars Krogh Jeppesen sagt, er möchte auch deswegen zum FC Barcelona gehen, um in dieser phantastischen Stadt zu leben – der Däne hat dort Anfang Februar einen Vertrag bis 2009 unterschrieben.

Trotzdem bleibt Flensburg die interessanteste Adresse für Spieler aus dem Norden. „Das ist unser Standortvorteil“, sagt Storm, „Städte wie Flensburg, Ystad und Stavanger sind ähnlich, Hafenstädte eben, da gibt keiner seine Wurzeln auf, wenn er wechselt.“ Storm will aus der SG eine nationale Marke machen.

Doch das ist ein langer Weg mit allen Mühen der Ebene – der sperrige Vereinsname, das veraltete Emblem. „Wir wollen nicht mehr die Kuschel-SG von früher sein“, sagt der Manager, „wir sehen uns als leistungsstarkes Unternehmen.“

Bei der Akquise regionaler Sponsoren sind alle Klubs längst an ihre Grenzen gelangt, auch die SG Flensburg-Handewitt. Jetzt möchte die SG große, deutsche Unternehmen für sich gewinnen. Storm sagt: „Wir brauchen einen Generator für die Entwicklung der Marke.“ In Flensburg wird die SG am Sonntag erst einmal den größten Bierausstoß in der Geschichte der Brauerei generieren. [Frank Heike]

[Quelle: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.05.2004]