Jochen Fraatz: Der Mann mit Dynamit in den Armen

Auf seine persönlichen Erfolge kann Fraatz, der als einer der trickreichsten Flügelspieler der Welt gilt, stolz sein. Mit TUSEM Essen wurde er 1986, 1987 und 1989 Deutscher Meister, 1988, 1991 und 1992 DHB-Pokalsieger, 1989 Europacupsieger der Pokalsieger und 1994 Gewinner des Euro-City-Cups. Mit der HSG Nordhorn stieg er 1996 in die Bundesliga auf und mit dem TBV Lemgo errang er zum Ende seiner Spieler-Karriere den DHB-Pokal.

Den größten Erfolg mit der deutschen Nationalmannschaft errang der 187-malige DHB-Auswahlspieler (insgesamt 822 Treffer) bei den Olympischen Sommerspielen 1984 in Los Angeles mit dem Gewinn der Silbermedaille. Damals verlor das Team von Bundestrainer Simon Schobel das Finale gegen Jugoslawien unglücklich mit 17:18. Natürlich war Fraatz mit acht Toren bester Werfer.

Aber die Nationalmannschaft war für den am 14. Mai 1962 in Cuxhaven geborenen Linksaußen ein Kapitel für sich. Die Enttäuschungen überwogen, obwohl auch dort eine zweistellige Torausbeute (zwölf gegen Ungarn, elf gegen Island, zehn gegen Jugoslawien) keine Seltenheit waren. Wenigstens ein Happy-End bei Olympia 1992 in Barcelona wünschte er sich nach den Pleiten bei der B-WM 1987 in Südtirol und 1989 in Frankreich.

Doch es kam nicht so. Die DHB-Auswahl war zwischenzeitlich sogar in die C-Gruppe abgestürzt, ein Erdrutsch für das Mutterland des Handballs, der mit Hohn und Spott begleitet wurde. Auch Fraatz geriet trotz seiner unbestrittenen Klasse in die Kritik. Der „Betriebsunfall“ wurde repariert, Deutschland zählt inzwischen wieder zur absoluten Weltklasse.

Dieses Attribut kann man über ein Jahrzehnt auch Fraatz zusprechen. Der „Mann mit Dynamit in den Armen“ versetzte die Torhüter in der Bundesliga und der ganzen Welt in Angst und Schrecken. Der technisch versierte, pfeilschnelle Tempogegenstoß-Spezialist und trickreiche Flügelflitzer war kaum zu halten und schoss Tore wie am Fließband. „Er war einer der begabtesten Handballer der Welt“, lobt ihn sein damaliger Essener Trainer Petre Ivanescu.

„Jochen war in der Vorwärtsbewegung einer der gefährlichsten Bundesligaspieler, aber in der Abwehr zeigte er ein gewisses Phlegma“, urteilt Ex-Bundestrainer Horst Bredemeier. „So einer wie Scholle wird nur alle hundert Jahre geboren“, meinte Simon Schobel. Der frühere Bundestrainer verpasste Fraatz den Spitznamen „Scholle“, weil Jochen in Cuxhaven an der Küste geboren ist.

Das Können des Jochen Fraatz freilich kommt nicht von ungefähr. Vater Fritz war selbst aktiver Handballer, Torhüter auf dem Großfeld beim unterklassigen SV Cuxhaven. Mutter Ursula stürmte im selben Verein im linken Rückraum. Die Eltern nahmen Jochen schon als Baby im Kinderwagen mit in die Halle, das Interesse an dieser Sportart wurde beim Filius schnell geweckt. Der Vater lehrte seinen Sohn als erster Trainer das ABC des Handballs.

Mit neun Jahren trat Einzelkind Jochen dem Verein bei. Überregional wurde man auf das Talent aufmerksam, als Jochen mit zwölf Jahren eine Einladung zum Sichtungslehrgang erhielt. Als 15-Jähriger wurde er in die B-Jugend-Auswahl des Deutschen Handballbundes (DHB) berufen. Im April 1979 bestand er seine internationale Feuertaufe im Länderspiel gegen Dänemark.

Im Februar 1981 bei einem Lehrgang im Leistungszentrum Essen sah Klaus Schorn erstmals diesen „ungeschliffenen Diamanten“. Schorn führte mit dem Flügelstürmer ein loses Gespräch, nahm erste Kontakte mit dessen Eltern auf. Für „Mister TUSEM“ stand fest: Diesen Jungen hole ich nach Essen. Gesagt, getan: Im Juni 1982 wechselte Fraatz von der Nordsee an den Baldeneysee.

Die Bilanz seiner ersten Bundesligasaison war mit 26 Einsätzen und 37 Toren eher durchwachsen, doch in der Spielzeit 1983/84 avancierte er schon mit 152 Treffern zum besten TUSEM-Goalgetter, noch vor Alfred Gislason, dem heutigen Erfolgstrainer des SC Magdeburg. Danach war der „Mann der Tore“ aus dem TUSEM-Team nicht mehr wegzudenken, entwickelte sich zu einem Angreifer der Extraklasse, wurde 1990/91 (207 Tore) und 1991/92 (212 Tore) Bundesliga-Torschützenkönig.

Insgesamt erzielte Fraatz in 438 Bundesliga-Spielen 2683 Treffer und führt damit immer noch die ewige Torschützenliste an. Fraatz stand sogar einmal für 58 Minuten im Tor des TUSEM, als in der Saison 1986/87 vor dem Spiel gegen den VfL Gummersbach sämtliche Essener Keeper nicht einsatzfähig waren. „Scholle“ wechselte 1996 zur HSG Nordhorn, stieg mit dem Klub aus der Grafschaft Bentheim 1999 in die Bundesliga auf.

Am 30. Mai 2001 beendete Fraatz beim All-Star-Game in Münster seine glanzvolle Karriere und wurde mit dem „Handball-Oscar“ ausgezeichnet. Als Stand-by-Spieler half Fraatz beim von Verletzungssorgen gebeutelten TBV Lemgo noch einmal aus, doch am Ende der Saison war endgültig Feierabend für den Handballer Jochen Fraatz.

[Quelle: handballwoche.de]