SZ Streiflicht: Handball-Europameisterschaft

„Schönheit“, schrieb Morgenstern, „ist empfundener Rhythmus. Rhythmus der Wellen, durch die uns alles Außen vermittelt wird.“ Wir, die wir mit ihm schwelgen, wollen versuchen, jene Wellen zu beschreiben. Es sind unermüdlich rollende, phantasievoll inszenierte Angriffswellen. Stephan hat den Ball, jetzt Schwarzer, schon kommt Kehrmann von rechts, wird angespielt, könnte aufs Tor werfen, aber noch hat die Welle ihre größte Kraft, ihre ganze Ästhetik nicht entfaltet. Kehrmann passt den Ball hoch in den Kreis, in den im selben Moment, nein, schon Augenblicke vorher, Jansen fliegt, dieser pickt mit seiner linken Hand den Ball und legt ihn sich, im Flug, in die rechte und wirft ihn um die Ecke, um den irritierten, zappelnden Torwart herum.

Und das geschieht so schnell, dass man vor dem Fernseher nicht einmal einen Schluck aus der Pulle nehmen kann. Wie monoton dagegen doch ein Fußballspiel ist! Wie lange es dauert, ehe ein Abstoß ausgeführt ist, der zu allem Unglück auch noch im Aus landet! Und wie einfallslos das Personal sich den Ball am eigenen Strafraum zuschiebt! Am verwerflichsten jedoch erscheint Freunden des Handballspiels der ebenso weibische wie unaufrichtige Charakter von Fußballern und ihren Trainern, wir sagen nur: Frings und Sammer. Freitagabend, Frings lässt sich vor dem herrlich leeren Tor fallen, um einen Elfmeter zu schinden, und Sammer macht ihn nicht zur Minna, sondern belobigt ihn noch als Schlitzohr. Unter ihren Schädeldecken muss sich etwas so verschoben haben, dass der Drang zum Betrügen sogar den Drang zum Torschuss überlagert.

Wir sind gerade Europameister geworden. Wir dürfen uns diese Grundsatzkritik erlauben. Nehmen jetzt aber den erhobenen Zeigefinger herunter. Führen ihn vors Videogerät. Play. Gespeichert wurden in elf Tagen acht Spiele der deutschen Handballer; wir können uns das Gejammere von Völlers Mädels gut vorstellen, wenn sie acht Spiele in elf Tagen zu bestreiten hätten, doch das nur nebenbei. Band läuft. Was ist das? Bitte, was soll das sein? Zu sehen ist grüner Rasen. Ja richtig, wir erinnern uns, dies ist ein englisches Fußballspiel, aufgenommen zu Weihnachten, nie gelöscht, weil: hin- und herrollende Wellen, stürmisch und klar. Campbell an die Außenlinie zu Bergkamp, dieser könnte sich in seinen Gegner hineindrehen, dann bekäme er Freistoß, aber ein solcher Gedanke ist ihm fremd, Bergkamp lässt den Ball über den Außenrist zu Henry fluppen, Doppelpass mit Parlour, und schon ist Henry frei vor dem Tor; er hat das ähnlich fabelhaft gemacht wie Jansen, unser übers Parkett fliegender Junge. Ach, wie schön, in England gibt es keine Waschlappenfußballer. Außerdem gibt es dort keine Handballer. Wenn es aber in England Waschlappenfußballer gäbe, brauchte auch England zum Ausgleich Handballer. Capito?

[Quelle: Süddeutsche Zeitung v. 03.02.2004]